Die Aerodynamik wird zum bestimmenden Konstruktionselement!
In Venedig ist seit diesem Wochenende die erhellende Ausstellung „Architecture of Speed – Paul Jaray and the Shape of Necessity“ zu sehen (Arsenale Institute for Politics of Representation). Wolfgang Scheppe, Ausstellungsmacher und Philosoph, geht es abgesehen von der Form des Notwendigen um „bislang übersehene Aspekte der Erfindung der Stromlinienform von Automobilen“. Designgeschichtlich ist die Ausstellung, die sich auch einer Kooperation mit der Fachzeitschrift Arch+ verdankt, überaus bemerkenswert. Das liegt nicht allein am Modernephänomen der Be- und Entschleunigung, sondern an der Biografie von Paul Jaray. Die zum Politikum wird. Rassismus, Faschismus und ein ökonomischer Wettbewerb der deutschen Automobilindustrie um die Ideengeschichte sind zeichenhaft beteiligt.
Der Weg des Wiener Ingenieurs Paul Jaray zum Stromlinienpionier begann nach verschiedenen Ausbildungsstationen bei der Firma Luftschiffbau Zeppelin in Friedrichshafen. Während der Jahre des Ersten Weltkrieges war er für die Ausarbeitung der Konstruktionsunterlagen für die Luftschiffproduktion von Heer und Marine zuständig. Bereits 1917 zum Oberingenieur ernannt, liess er für die Luftschiffforschung einen Windkanal installieren. Mit dieser Einrichtung konnte er mit verschiedensten Objekten und Modellen deren Strömungsverhalten untersuchen. Bereits 1921 meldete er aus Friedrichshafen als Privatmann beim Deutschen Reichspatentamt sein erstes Patent Kraftwagen mit der Nr. 441 618 an. Im Titel findet sich seltsamerweise kein Hin- weis auf die Stromlinienform. Danach liess er in den wichtigsten europäischen Ländern und in den USA (1922) das Hauptpatent anmelden. Damit und mit weiteren Zusatzpatenten wurde er zum Platzhirsch des Stromliniendesign-Geschäftes und spülte die Konkurrenzpatente vom Tisch. Seine erste Serie gebauter Stromlinienautos (1922/23) für die deutschen Automobilfabriken Ley, Audi und Dixi fusste auf seinen Patenten und den aerodynamischen Untersuchungen im Zeppelin-Windkanal. Die Tests führte er mit seinem ersten Holzmodell von 1922 durch, das sich heute im Verkehrshaus der Schweiz befindet. Mit den damals verwendeten schmalen und hochbocki- gen Fahrgestellen, die sich noch an den Kutschen orientierten, sind allerdings Fahrzeuge in einer äusserst grotesken Form entstanden. Bei den ersten Propagandafahrten im Dreierpack (Ley, Audi, Dixi) durch ganz Deutschland lösten die unförmigen Fahrzeuge heftige Reaktionen aus. Man fand sie schlichtweg lächerlich.
1923 verlegte Paul Jaray seinen Wohnsitz nach Brunnen am Vierwaldstättersee und eröffnete gleich nach seinem Umzug die Stromlinien-Karosserie-Gesellschaft in Zürich mit einem neu kreierten Firmenlogo für die Lizenzverwertung. Diese frühe Phase wird von Hans Erni mit einer bis heute noch nie publizierten und nichtdatierten, aber viel später entstandenen Tuschzeichnung festgehalten. Sie zeigt didaktisch vergleichend die Untersuchungen zum Strömungs verhalten an vier verschiedenen Objekten (Wand, Tropfenform und zwei Autos) im Windkanal. Paul Jarays bisher nicht wahrgenommenes Windkanalmodell aus den späteren 1920er Jahren vermittelt die Tendenz zu breiteren Chassis und die kommende Tieferlegung. Mit dem breiteren amerikanischen Chrysler-Typ-72-Fahrgestell konnte er sich 1927/28 diesem Ziel erstmals annähern. 1932 zog Jaray nach Luzern und wurde Nach-bar von Hans Erni. Man weiss leider wenig über diese Freundschaft. Nur ein Foto zeigt die beiden gemeinsam am Vierwaldstättersee anlässlich einer Testfahrt eines motorisierten Wasserfahrzeu-ges mit stromlinienförmigen Schwimmern. Ein Jahr später wurde auch Jarays Firma nach Luzern verlegt und mit neuem Namen weitergeführt: Aktiengesellschaft für Verkehrspatente (AVP). Sie verwaltete seine europäischen Patente, während die Jaray Streamline Corporation of America in New York die amerikanischen und kanadischen Paten- te betreute. Für einen neuen Werbefeldzug liess Jaray 1933/34 nach seinen eigenen Zeichnungen bei der Luzerner Karosseriefirma Huber & Brüh-wyler einen Mercedes auf einem Chassis Typ 200 und einen Audi 2 lt. Front für seinen Eigenge-brauch ausführen, den er bis weit in die 1950er Jahre fuhr. Als nächstes Auto kaufte er sich einen VW Käfer! Die dreissiger Jahre kann man als die Stromlinienjahre bezeichnen. Es kommt zu einem «Ren-nen» zwischen den verschiedenen Autofirmen, zu-nehmend auch im Rennsport. Jarays Firma konnte weiterhin mit vielen Autofirmen Lizenzverträge abschliessen und Prototypen entwickeln. H. P. Bröhl schildert Jarays Endrunde der Strom-linieneuphorie wie folgt: «Der erwartete finanzielle Erfolg blieb der AVP aber versagt, trotz dem unbestrittenen Siegeszug der Stromlinie im Sport. Die einzigen Wagen, die serienmässig, aber in be-scheidenen Stückzahlen gebaut wurden, waren die tschechischen Tatra. Obwohl die Lizenzgebüh-ren mit 5 Reichsmark pro Sitzplatz jedes Automo- bils eigentlich recht bescheiden waren, konnten sich die meisten Automobilhersteller noch nicht durchringen, die Stromlinie einzuführen». In der Folge nahm Jarays Einfluss auf die Entwicklung des Stromliniendesigns im Autobau ab, und er wandte sich wieder dem Flugzeugbau zu.